Abteilung Parteigeschichte:Aus den Aufzeichnungen eines Rotthauser Genossen

Ortsverein

von Klaus Brandt

Von Helma Schiwietz erhielt ich aus dem Nachlass unsres Genossen Werner einen Ordner mit 211 Klarsichthüllen: Aus dem Sozialdemokrat Magazin von Mitte der siebziger bis Mitte der achtziger hat er säuberlich die Seiten herausgetrennt, die sich mit der Geschichte der Arbeiterbewegung befassen. Hier ein Beispiel:

 

Heft 11/12 1978    Wie die deutsche Republik entstand

In einer Dreizimmerwohnung in Hamburg-Altona wohnt Lothar Popp (91), noch heute aktives SPD-Mitglied. Als Führer der Unabhängigen Sozialdemokraten in Kiel war er Gegenspieler Gustav Noskes während des Matrosenaufstandes 1918. Er berichtet:

Schon im Januar 1918 haben wir versucht, einen Arbeiterrat zu gründen. Der  Richter verurteilte mich deswegen zu mehreren Monaten Zuchthaus. Als ich abgeführt wurde, habe ich ihm zugerufen:

Ob Schützengraben oder Zuchthaus, das ist mir ziemlich egal. Aber eines weiß ich: Das Zuchthaus ist einer der ehrenwertesten Orte, wo man in Deutschland sitzen kann.

Zum Verständnis des Folgenden zunächst eine Übersicht, gestützt auf Sebastian Haffner: Der Verrat; Ursula Büttner: Weimar; und Hans Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte

29. September 1918  General Ludendorff hat diktatorische Macht wie sonst niemand vor Hitler. Den Ruhm überlässt er dem Volkshelden Hindenburg. Er selbst verkörpert Deutschlands neue bürgerliche Herrenklasse, ihren wilden Siegeswillen, ihren besessenen „Griff nach der Weltmacht“. Seine Entscheidungen haben etwas Ungeheuerliches: der unbeschränkte U-Boot-Krieg, der Gewaltfriede mit Lenins Sowjetunion – das ist der Stil, in dem das deutsche Großbürgertum sein Wesen und Wollen ausgedrückt findet. Ein Zug von kalt-besessener Übertreibung, Alles oder Nichts, das Motto einer Klasse, das seitdem aus unserer Geschichte nicht verschwunden ist.

Die heraufziehende Niederlage hat er nicht wahrnehmen wollen -  um dann unvermittelt auf extremen Pessimismus umzuschalten. Plötzlich fordert er ein Waffenstillstandsgesuch binnen 24 Stunden: Er könne nicht mehr dafür garantieren, eine militärische Katastrophe zu verhindern. Keineswegs hat er die Nerven verloren. Er plant die Niederlage. Um die Existenz der Armee zu retten, soll der Waffenstillstand geschlossen werden. Um ihre Ehre zu retten, soll das Gesuch von denen ausgehen, die schon immer für einen Verständigungsfrieden eingetreten waren: den Parteien der Reichstagsmehrheit.

Für die fehlinformierte und verhetzte Öffentlichkeit sind Hindenburg und Ludendorff  die Männer mit den starken Nerven und dem eisernen Siegeswillen, die Garanten des Endsieges. Scheidemann (SPD) dagegen und der Zentrumsabgeordnete Erzberger, die jetzt plötzlich in der Regierung sitzen: Jammergestalten, Miesmacher, Flaumacher, Unglücksraben und quakende Unken aus der Tiefe.

Ihnen will Ludendorff den Übergang zur parlamentarischen Regierungsform anbieten. Am 28. September weiht er Hindenburg ein, der wie üblich zustimmt, am 29. gewinnt er die Zustimmung des Kaisers; der wagt nicht aufzumucken. Doch das Ende lässt auf sich warten. An der Westfront wird weiter gestorben, die Siebzehnjährigen werden eingezogen. Auf einmal ist Ludendorff wieder für Weiterkämpfen. Nun spielt er die Rolle des unbesiegten Soldaten, der sich einer friedenssüchtigen Regierung von knieweichen Demokraten widersetzt.

26. Oktober  Als Garanten des Sieges kann er sich nicht mehr darstellen. Bisher brauchte er nur mit Rücktritt zu drohen, um seinen Willen durchzusetzen, jetzt muss er erleben, dass der Kaiser auf sein Rücktrittsgesuch erwidert:“Na, wenn Sie durchaus gehen wollen, dann meinetwegen“.

30. Oktober  Ludendorff  verschwindet mit falschem Pass nach Schweden. Aber sein Geist lebt noch in den Stäben von Heer und Flotte.

 „Eine Festung, die sich ergibt, bevor das Letzte hergegeben ist, steht unter dem Fluch der Unehre. Muss aber ein Volk sich dies nach der äußersten letzten Kraftanstrengung gefallen lassen, so wird es leben.“

Das rührt an einen Ehrbegriff, der der deutschen Oberschicht in den Knochen sitzt. Er beherrscht ihr Denken, Fühlen und Handeln. Die Massen mögen sich durch die Aussicht auf Frieden erleichtert fühlen. Die Offiziere nicht. Für sie ist Aufgeben Schande. Ihr ziehen sie den Tod vor. Und die Massen haben gefälligst mitzusterben.

30. Oktober Der Kaiser verlässt Berlin und bezieht Kampfstation im Großen Hauptquartier zu Spa in Belgien, inmitten seiner militärischen Paladine. An Abdankung denkt er nicht. Er braucht das Heer, um in der Heimat die Revolution niederzuschlagen, wenn sie ausbrechen sollte.

30. Oktober Wilhelmshaven  Hinter dem Rücken der Regierung beschließt die Flottenführung, eine  Entscheidungsschlacht gegen die englische Hochseeflotte zu suchen. Die Matrosen haben nie daran gedacht, ihr Leben in einer Meuterei aufs Spiel zu setzen. Freilich: ebenso wenig in einer großen Seeschlacht. Aber vor die Wahl gestellt, entscheiden sich die Mannschaften mehrerer großer Schiffe (keineswegs alle) für die Meuterei. Nicht aus Feigheit, Meuterei im Kriege erfordert  mehr Todesmut als Kampf in der Schlacht. Sondern weil sie sich im Recht glauben. Elementarer Lebenswille steht auf. Nach atemberaubenden Minuten, in denen die meuternden und die noch nicht meuternden Schiffe aus nächster Nähe ihre riesigen Kanonen aufeinander richten, ergeben sich die Meuternden. Aber der Flottenvorstoß wird aufgegeben. Mit einer unzuverlässigen Mannschaft wollen die Admirale keine Seeschlacht wagen. Das Dritte Geschwader, das nicht gemeutert hat, dampft nach Kiel.

1. November  Ankunft. Die verhafteten Matrosen, über tausend, werden  in die Gefängnisse gebracht. Auf sie warten Kriegsgericht und Erschießungskommando.

 

Nun Lothar Popp:

Während der Fahrt hat es weitere kleinere Meutereien gegeben, 47 weitere Matrosen werden in Haft genommen.

1. November Protestversammlung von etwa 250 Matrosen im Kieler Gewerkschaftshaus. Sie nehmen mit SPD und USPD Kontakt auf.

2. November Jetzt sind es fast 1000 Matrosen, Gewerkschafter und Sozialdemokraten, die vorerst „nur“ die Freilassung der 47 Inhaftierten fordern. Nachts werden im Parteibüro der USPD Flugblätter  gedruckt:                                           “Arbeiter, demonstriert in Massen. Lasst die Soldaten nicht im Stich“.

3. November  Aus knapp 1000 Matrosen wird unter Beteiligung der Arbeiterschaft  ein Zug von über 10 000. Schnell wird ihr Ziel, das Gefängnis an der Waldwiese, deutlich. Der Gouverneur an die Reichsmarineleitung:

„Bitte hervorragenden sozialdemokratischen Abgeordneten hierher zu schicken, um im Sinne der Vermeidung von Revolution zu sprechen.“

Gegen 17 Uhr erreicht der Demonstrationszug die Stadtmitte. Es ertönen Rufe, die 47 Matrosen aus der Arrestanstalt zu befreien. Die Polizei kann die Menge nicht zurückhalten, die Matrosen stürmen das Gefängnis an der „Waldwiese“. Die 47 Inhaftierten sind befreit.

Nun sollen auch die Kameraden aus dem Gefängnis in der Feldstraße                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            geholt werden. Gouverneur, Polizei und Marineleitung mobilisieren ihre letzten Truppen. Unter Führung des Leutnants Steinhäuser trifft ein Trupp kaisertreuer Soldaten auf den fast 10 000 Mann starken Demonstrationszug. Als die ersten Demonstranten Steinhäusers „Kaisertreue“ überrennen, gibt dieser den Befehl zu feuern. Die Demonstranten schießen zurück.  Sieben Tote und 29 Verletzte bleiben auf dem Straßenpflaster liegen.

4. November In den Kasernen und auf den Schiffen machen sich die Mannschaften selbstständig. Berlin will Truppen senden. Die Bahnlinien nach Kiel werden unterbrochen. Doch schon längst sind Abordnungen der meuternden Matrosen in andere Städte aufgebrochen. Am Abend trifft der Abgeordnete Gustav Noske (SPD) ein. Er taktiert geschickt. Mit dem USPD-Mann Popp handelt er eine Machtverteilung aus: Noske wird neuer Gouverneur von Kiel, Popp Vorsitzender des Obersten Soldatenrates. Noske spekuliert richtig, dass entscheidend sein wird, wer die Verwaltungsbürokratie in der Hand behält. Und das ist der Gouverneur.  Lothar Popp, der später wieder zurück in die SPD ging, sieht heute den Aufstand ohne Verklärungen:

„Wir waren keine Revolutionäre. Als wir  plötzlich die Macht in den Händen hatten, da wollte ich aus dem Zusammenbruch des Kaiserreichs was machen. In Abstimmungen konnte ich Noske, der gekommen war, um alles abzuwürgen, noch schlagen, aber in der praktischen Arbeit war ihm meine Gruppe  unterlegen. Wir wurden müde.“

In der Verlagerung der politischen Verantwortung von den Arbeiter- und Soldatenräten zu den Machern der Nationalversammlung, die – wie er zugibt, von den Arbeitern und Soldaten gewollt war – sieht er den ersten Schritt zum späteren Untergang der Weimarer Republik.

„Man hätte mehr aus dem Kieler Aufstand machen können. Aber wenn ich mich heute umsehe, es ist ja auch so etwas aus unseren Zielen in Deutschland geworden. Darauf könnte die SPD ruhig ein Bisschen stolzer sein.“

Nochmals Sebastian Haffner  Eins wussten die Rebellen: Sie mussten die Revolution ins Land tragen, wenn sie nicht niedergeschlagen und grausam bestraft werden wollten. Und das taten sie mit  Erfolg. In dieser Woche verwandelte sich das westliche Deutschland aus einer Militärdiktatur in eine Räterepublik. Das war ruhmreich, man mag zu den Zielen stehen, wie man will. Denn hier schlugen sich  große und edle Eigenschaften nieder: Mut, Entschlusskraft, Opfersinn, Einmütigkeit, Schwung, Initiative, ja Inspiration und instinktive Zielsicherheit. Zu Tausenden setzten die Arbeiter und Soldaten nicht nur ihr Leben ein sondern wagten den Absprung ins Unbekannte, Unerprobte, Unübersehbare, der noch mehr Mut fordert als der bloße Einsatz des Lebens, nämlich revolutionären, nicht bloß soldatischen Mut.

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 Zwei Anmerkungen noch:

Die erste zur Geschichte unserer Partei. Nicht alles war ruhmreich (Gustav Noske wird nicht jedermanns Sache sein), manches jedoch Ehrfurcht gebietend, vieles stärkend und belebend. Was verlören wir nicht alles, würden wir mit unserer  Vergangenheit keinen vertrauten Umgang pflegen. USPD, Arbeiter- und Soldatenrat sind uns schon bei Emil Samorei begegnet. Was er mit der unheilvollen „Legende vom Dolchstoß in den Rücken der kämpfenden Truppe“ meinte, wird auch durch Lothar Popps Schilderung deutlich.

Die zweite zu Werner Schiwietz, der jahrelang die Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung studiert, gesammelt und aufbewahrt hat. Solche wie er sind wohl selten geworden. Aber nicht zu vergessen: Die (spätere) SPD hat als Arbeiterbildungsbewegung angefangen, mit Lassalle, sehr stark aber auch mit Bebel.

„Ja, bei den Kindern müssen wir wieder anfangen. Ich bin ja auch so ein Zögling aus der Arbeiterjugend von 1908“

schrieb Emil Samorei. Seine Briefe kann man auch mehrmals lesen, wenn ich mir den Vorschlag erlauben darf. Wir wären ziemlich trübe Tassen, wenn sie, wie auch das, was Lothar Popp zu erzählen hatte und vieles andere mehr bei uns kein Echo mehr fände.    

 
 

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